Ohne Dich

Besinnliche Gedanken in einer manchmal unbesinnlichen Zeit

Ich weiß nicht, ob ihr sie kennt, aber in diesen übervollen Geschenkeläden und kleinen Mitbringselstationen am Bahnhof findet man sie oft gedruckt auf aller Art: Süße Comics, in diesem Falle ein Schäfchen, das den Kunden traurig anblickt und verkündet „dass ohne dich alles doof ist“.

Als ich sie das erste Mal gesehen habe, war ich richtig angerührt. Ich unterbrach das hektische Suchen im Laden, schaute mir die Tasse an und dachte über den Comic nach: Genau das ist es! Super, genau auf den Punkt gebracht. Etwas kitischig, natürlich und für den Massengeschmack getrimmt, aber im Kern doch eine schöne und wichtige Aussage, die zudem sehr gut in die besinnliche und wettertechnisch graue, langweilige Vorweihnachtszeit passt.

Ohne den Mitmenschen ist alles fad. Das ist in erster Linie der Partner, der dem eigenen Leben einen Sinn verleiht. Aber auch- oder gerade- wenn man allein ist, kann diesen Sinn jeder Mensch erfüllen.

Das Leben ohne Mitmenschen oder ohne sich für die Mitmenschen zu interessieren, macht keinen Sinn. Es ist sicherlich nicht Zweck unserer Existenz, andauernd allein zu sein oder Selbstgespräche zu führen. Selbst, wenn man dabei sehr weise wird oder gar die Erleuchtung findet. Hey, aufgerafft, irgendwann musst du auch mal lernen, auf andere zuzugehen! Lernt man das nicht schon im Kindergarten oder der Grundschule? Vielleicht lernen es manche auch nie..

„Freunde“ stehen hoch im Kurs und in jedem drittklassigen, psychologischen Essay zu dem Thema findet man die Ratschläge zuhauf: „Öffnen sie sich, gehen sie auf andere zu, wagen sie den ersten Schritt! Ein soziales Netzwerk ist gut für die Gesundheit, schafft Sicherheit und Geborgenheit, erhöht die Potenz und die Lebenserwartung, und bringt dir augenblicklich den genetisch unbelasteten und atomwaffenfreien Weltfrieden. Sichern sie sich ihr sozial erfülltes Leben noch heute. Rufen sie an, unter der kostenpflichtigen Hotline…“

Soziale Netzwerke im Internet bringen dir Freunde in Massen und jede Woche schickt mir der Facebook-Konzern meines Vertrauens die dringliche Botschaft, dass die 534 Freunde (die ich hauptsächlich durch das Abo einer Browserspiel-Massenmail erhalten habe) auf mich warten und mich soo sehr vermissen. Auf Twitter kann man am Leben fremder Menschen ständig teilhaben, man bekommt mit, wann sie einkaufen, wann sie ihren Kaffee kochen, ob sie Bauchschmerzen, Kopfschmerzen oder doch eher Menstruationsprobleme haben, ob derzeit die Kondome, das Katzenfutter, das Geld ausgegangen oder die Akkus leer gelaufen sind, wie sie sich über das Fernsehprogramm aufregen, mit ihrem Freund Schluss gemacht und stattdessen einen neuen Handyvertrag begonnen haben. Die GPS- Ortung im Handy macht den genauen Aufenhaltsort bekannt und in Verbindung mit der Adresse und Google Streetview haben auch geschickte Langfinger ein leichtes Spiel. Alles ist offen, alles ist transparent! Jeder Mann ist Teil der Horde, Teil der Masse, jeder macht das Gleiche und doch teilen sie alle das gleiche Problem, dass am Ende des Tages auf der Rechnung Einsamkeit steht. Und zeitgleich regen sich alle massenkonform über den mangelnden Datenschutz auf.

Diese Art in der Masse zu schwimmen, ist attraktiv und berauschend. Es gleicht dem Gang durch eine überfüllte Shoppingmall an einem Adventssamstag. Jeder ist in Bewegung, man sieht tausende unterschiedliche Gesichter und die Luft ist erfüllt von Millionen unterschiedlichster Duftmoleküle. Auf den Weihnachtsmarkt vermischen sich die Glühweinschwaden mit gebratenem, gesottenem oder knackig süßem. Der Mitmensch reibt seinen Hintern an mir ich schiebe zum Dank meinen Ellenbogen in seine pelzig-bewehrte Rippe; man geht nicht durch die Masse, sondern man wird mehr geschoben, man taucht ein in das Bad der Menge und hat ein sehr gutes Gefühl dabei- von der unterschwelligen Angst vor Terroranschlägen vielleicht abgesehen.

Das alles ist sehr berauschend und in diesem Fall ist man nichts „ohne dich“. Sobald man ins Auto gestiegen, das Parkhaus verlassen und nach stressigem Verkehr auf der überfüllten Straße endlich wieder in die gemütlichen vier Wände einkehrt, umgibt einem wieder diese Stille, diese Leere. Es ist wie ein Heroin-Süchtiger auf Entzug: Vom farbenprächtigsten und schönsten Rausch der Erde kehrt man wieder in seinen grauen Betonbunker zurück.

In viel größeren Dimensionen erlebt der Mensch das Wechselbad der Nähe und Einsamkeit in den Phasen seines Lebens und in den größeren zeitlichen Phasen der Schicksalschläge, des Alterns und in den verschiedenen Lebensabschnitten.

Als junger Mensch ist man gewöhnt, viele Freunde und viel Freizeit zu haben. „Ausgehen“ ist das Wort, das eine große Bedeutung hat und auch unweigerlich mit Leben gefüllt werden muss. Nach der kurzen, unsicheren Phase der Pubertät macht sich schon bald ein neues Selbstbewusstsein und eine neue Lebensanschauung breit, die für neue Erfahrungen sorgt und den Menschen verändert. Er hat diese Reifung auch bitter nötig, denn nur zu schnell drängen die Anforderungen der Gesellschaft, der Arbeit und der Familie an ihn: Es muss eine Ausbildung oder ein Studium begonnen werden. Irgendwann ist man dann im Idealfalle im Berufsleben angekommen. Die Zeit für die Freunde wird weniger. Selbst gute Freunde aus der alten Zeit werden „vergessen“.
Schon im Studium musste man umziehen und hat sich umorientiert. Der kleine, begrenzte Freundeskreis aus der Schule wurde komplett ausgetauscht und mit einem neuen ersetzt. Zeitweilig ist man vielleicht einsam. Im Beruf dann hat man keine Zeit für Einsamkeit, da die Arbeit und die acht Stunden pro Tag die wichtigste Lebenserfahrung sind. Am Ende steht Geld auf dem Konto und der Mensch funktioniert.

Er hat vielleicht eine Ehe und Kinder.. aber doch meistens keine Zeit oder umgekehrt. Als Frau gibt man den Beruf auf und ist nur noch für die Kinder und den Mann da. Die schönsten und wichtigsten Kontakte sind dann die Mütter aus dem Kindergarten. Und das Highlight des Abends ist, wenn der eigene Mann an der Tür klingelt. Neben dem (relativ schlechten) Fernsehprogramm.

Oder die Ehe löst sich von heute auf morgen auf. „Es passt nicht mehr“ hat sie gesagt „ich habe einen anderen“. „Du bist nicht mehr attraktiv und das mit dem Sex hat doch eh nie geklappt zwischen uns. Machen wir uns nichts vor. Es ist vorbei.“

Das alte Leben löst sich auf. Eine Krankheit entsteht. Etwas unerwartetes, heimtückisches, das so nicht auf der Agenda deines durchgeplanten und von einem Versicherungskaufmann gegengerechneten Lebensprofiles stand. Vielleicht folgt dann die Arbeitslosigkeit. Die guten Freunde verabschieden sich plötzlich, durch den Jobverlust hat man auch keine Kontakte mehr. Alkohol kommt ins Spiel und dann ist sie wieder da, ganz plötzlich und unvermittelt steht sie vor deiner Tür: Die Einsamkeit.

„Hey, lange nicht gesehen, wie geht es dir?“ Schaust du sie fragend an.

Du hast ganz vergessen, wie sie aussieht. Früher war sie hübscher, aber sie ist älter geworden. Man sieht die Verhärtung um die Mundwinkel herum, der Blick ist fahl geworden, desillusioniert und leer.

Das Fernsehprogramm vorhin konnte dich ablenken, die gute Reise sowieso. Du konntest sie verdrängen, deine alte Freundin.

Aber jetzt nagt sie an dir, tief drinnen, ein Gefühl das einfach nicht weggeht. Du schaust aus dem Fenster und siehst niemanden. Wann hat dich das letzte Mal jemand gelobt, in den Arm genommen, dir Aufmerksamkeit und Liebe geschenkt?

Der Kloß der Traurigkeit und Enttäuschung klettert den Hals hoch.

Du schaust nach draußen. Es schneit. Die Sonne ist untergegangen, dabei ist es gerade mal fünf Uhr.

„Ohne dich“, denkst du.

Ohne dich ist alles doof.