Dialog und Entfremdung

Ein Dialog ist ein Hin- und Her von Worten. Dabei werden gesprochene Inhalte emotional und inhaltlich bewertet und in veränderter Weise wieder zurückgegeben. Die Folge ist, dass beide Beteiligte daraus lernen können und sich weiterentwickeln. Das besondere Merkmal am Dialog ist die Zweiseitigkeit. (Kleiner Tipp für Eheleute: Brüllen, Ignorieren und Beleidigen verringert die natürliche Dialogfähigkeit auf beiden Seiten)

So gesehen ist die Plattform Twitter erstmal nur ein halber Dialog: Jeder spricht für sich. Das ist im Kern nichts anderers als erzwungener Narzissmus.

Erst, wenn man sich auf die Worte des Gegenübers einlässt und dazu etwas schreibt UND wenn dann noch was zurückkommt, ist es ein geschlossener Gesprächskreislauf, der zu den bekannten (und erstrebenswerten) Effekten führt.

Die besondere Aufgabe des Twitterers ist also, Leute zu finden, bei denen ausreichend Worte zurückkommen, denn ansonsten gleicht das Schreiben von Tweets nicht viel mehr als das ständige Schauen in den Spiegel: Ein schönes Spiegelbild, aber keine Veränderung. Seelisch verdrahtet, aber Klinisch tot.

Gut, mag man sagen, wenn ich die Worte eines anderen lese und wir quasi so nebeneinander her existieren, würde das doch reichen, oder? Schließlich gibt es eine telepathische, also rein gedankliche Verbundenheit von Menschen. Wenn ich ein Buch lese, nehme ich ja auch die Gedanken des Autors in mich auf und verändere mich dadurch.

Sind empfindliche Menschen daher vielleicht öfters in Twitter oder den Blogs zu finden? Weil sie mit den Texten eine künstliche Barriere zu anderen Menschen aufbauen wollen? Weil die Texte so eine Art Sicherheitszaun zum Gegenüber darstellen?

Wenn es so wäre, dann kann man das Internet und die Blogs oder Twitter im Speziellen als so eine Art abgesicherte Spielwiese für soziale Kommunikation ansehen.

Ihr fehlen aber wichtige Aspekte, die zur zwischenmenschlichen Kommunikation gehören, nämlich die Spielregeln für besondere Situationen, soziale Ausnahmen. Was mache ich, wenn ich mich über jemand geärgert habe, z.B.? Die Interaktionsmöglichkeiten sind hier sehr begrenzt: Ich kann meinem Partner sagen, dass was du eben gesagt o. geäußerst hast, finde ich nicht gut. Oder ich ent-followe ihn einfach, das ist eine rein mechanische, computergesteuerte und kalte Umgangsweise mit dem Mitmenschen. Liebesentzug und bedingungslose Anteilnahme sind die einzigen beiden Extreme, auf die ich zurückgreifen kann- was fehlt, sind die psychologisch so wichtigen Zwischentöne und Graustufen.

Wenn ich jemand einfach blocke oder ent-followe bekommt derjenige gar nicht die Möglichkeit, sich dazu zu äußern. Der Dialog fehlt. Die Aussprache fehlt. Twitter ist wie Dialog unter Menschen, aber bereinigt durch die Störfaktoren und „unpraktischen“ menschlichen Fehleranfälligkeiten.

Plattformen wie Twitter zeigen an dieser Stelle ihre Grenzen und sie beweisen auch die These „Die moderne Technik verändert die Umgangsweise und die Herzlichkeit zwischen den Menschen“.

Was hat uns die Technik denn sonst gebracht? Autos haben alles schneller gemacht, Computer haben alles genauer gemacht, Kühlschränke haben alles länger haltbar gemacht, Gesichtsoperationen alle (Frauen) hübscher, synthetische Hormone jünger oder weiblicher und Computerspiele oder TV-Sendungen haben die Zeit schneller laufen lassen.

Die Technik hat uns von hinten bis vorne im Griff. Keine Leben mehr ohne Technik. Kein Gang in den Garten ohne Rasenmäher, Heckenschere, Vollkomposter, Leisehäcksler oder Solarpanel mehr. Wir können die eigentliche Natur nicht mehr sehen, wir haben uns die Natur „aufgemotzt“.

Psychologen sprechen dann von „Entfremdung“ des Menschen von seiner menschlichen Natur. Entfremdung ist mit ein Hauptgrund für Depressionen und eine Folge von evolutionären Entwicklungen, die alle ein wenig zu schnell abliefen.. Ich spreche jemand an, nichts kommt zurück > Die Folge ist Streß, Trauer, Angst. Und diese Gefühle wiederum eine perfekte Grundlage für seelische Erkrankungen. (Stichwort Cortisol)

Entfremdung findet überall statt. Der Arbeitnehmer baut am Fließband Autoteile, aber er sieht das fertige Auto nie. Der Schichtarbeiter quält sich durch die Nacht und ist Teil eines Prozesses, aber er schafft keine Ganzheit, nein noch nichtmal die Sonne oder den Mond darf er bei der Arbeit sehen.

Die Steuerklrärung entfremdet unsere Arbeit auf ein weiteres, nimmt erstmal einen dicken Brocken unserer „Belohnung“ weg und nennt es einen guten Zweck (die soziale Gerechtigkeit).

Die Ehefrau sagt, dass wir den Müll runterbringen sollen oder den Abwasch machen sollen. Dabei wollten wir doch eigentlich…

Wer hat sein Leben schon vollständig unter Kontrolle? Wer kann „ich“ sagen?

Die Entfremdung von der menschlichen Natur begrenzen, politisch, emotional, sozial > eine große, aber lohnenswerte Aufgabe für das ganze folgende Jahrhundert.