Rezension „Die Wolke“

erschienen: 1988, Autorin: Gudrun Pausewang; Link zu Amazon

Mit 14 Jahren bekam ich dieses Buch zum Geburtstag geschenkt und lange Zeit lag es nun im Bücherregal und wurde von mir nie wieder angefasst. Damals habe ich solche Bücher nicht gelesen und ich würde auch bezweifeln, dass ich das volle Ausmaß dieses Buches in den jungen Jahren schon begriffen hätte. Ich kann mich nur daran erinnern, dass es irgendwie „befremdlich“ auf mich gewirkt und ich schon nach den ersten Seiten eine beklemmende Angst verspürt hatte.

Und genauso ging es mir, als ich durch einen reinen Zufall das Buch letzte Woche wieder in die Hand genommen und die ersten Seiten mit Neugierde überflog. Die bedrückende Stimmung von damals stellte sich sofort wieder ein:

Inhalt (Spoiler, nur lesen, wenn man das Buch schon kennt)

Deutschland, in einer nicht allzu fernen Zukunft. Die junge Protagonistin Janna-Berta (14 Jahre alt) sitzt in der Schule, als der ABC-Alarm losheult und alle Schülerinnen und Schüler evakuiert werden. Man hält es zuerst für einen Fehlalarm und schon bald gehen die Spekulationen los. Nach kurzer Zeit erfährt der Leser, dass es tatsächlich ein Reaktorunglück im nicht sehr weit entfernten Kraftwerk „Grafenrheinfeld“ gegeben hat.

Was das für die einzelnen Menschen bedeutet, ist den Kindern am Anfang nicht klar. Noch nicht sehr beunruhigt, lässt sich Janna von älteren Schülern nach Hause fahren, wo ihr kleiner Bruder wartet, auf den sie für ein paar Tage aufpassen muss. Ihre Eltern sind beruflich nach Schweinfurt unterwegs und die Großeltern für ein paar Tage auf Mallorca.

In der folgenden Geschichte fangen die Ereignisse bald an, sich zu überschlagen. Die Autorin schildert eindrucksvoll die Flucht der Kinder mit dem Fahrrad und ihre Erlebnisse in dem beginnenden Chaos aus Unwissen, Angst und Kampf ums Überleben. In verschiedenen Abschnitten wird die Geschichte weiter erzählt und jeder Abschnitt ist eine fesselnde, aber auch meist bedrückende Kette aus aneinander gereihten Ereignissen.

Im ersten Abschnitt geht es für Janna-Berta darum, den Bahnhof zu erreichen, um der nahenden Wolke und dem nuklearen „Fallout“ zu entgehen, der sie schon bald einholen wird. Eine dramatische Flucht, der die beiden Kinder kaum gewachsen sind. Erwachsene und gute Bekannte fahren an ihnen vorbei, ohne sie mitzunehmen, der Verkehr staut sich später sehr stark. In einem traurigen Höhepunkt geht Ulli, der Bruder von Janna-Berta verloren und wird von einem Auto überfahren. Dieses tragische Ereignis begleitet sie die ganze Geschichte hindurch und wird an verschiedenen Stellen erzählerisch aufbereitet. Die Flucht endet für das Mädchen an einem völlig überfüllten und überlaufenen Bahnhof, wo weitere Kinder verloren gehen und jeder um einen Platz kämpft. Janna rennt zurück zu ihrem toten Bruder, weil sie durch den erlittenen Schock immer weniger klar denken kann und zudem ein schlechtes Gewissen hat. Zwischdurch wird sie von der Wolke eingeholt und mit nuklearen Regen verseucht. Völlig entkräftet und auf sich allein gestellt verliert sie das Bewusstsein. Sie wird von irgendjemand gefunden und in ein Krankenhaus gebracht.

Der zweite Abschnitt beginnt in diesem dürftig eingerichteten Not-Krankenhaus und erzählt weitere Geschichten des Leidens. Sie versucht den Verbleib ihrer Eltern zu klären, was ihr aber trotz intensiver Nachfrage nicht gelingt. Eine Aura des Schweigens liegt um die Menschen, die mehr wissen könnten. Sie hat eine gute Bett-Nachbarin, mit der sie sich anfangs gut versteht, die aber später an der Strahlenkrankheit sterben wird. Später erfährt sie dann übere ihre angreiste Tante, dass ihre Eltern gestorben sind, außerdem ihre Lieblings-Oma und ihr kleinster Bruder. Für Janna ist das ein großer Schock, da sie bis zuletzt an ein gutes Ende geglaubt (und insgeheim gehofft) hatte.

Nach vielen Monaten kommt die Protagonistin einigermaßen geheilt nach draußen und wird von ihrer Tante aus Hamburg adoptiert. Diese ist sehr streng und will nur das beste für das Mädchen. Sie soll eine Mütze tragen, damit man ihre Glatze nicht sieht (die Haare sind wegen der Strahlung ausgefallen).

Janna-Berta hat aber zuviel erlebt und ist auch noch zu krank und schwach, um sich vollständig auf die Schule oder gar eine spätere Karriere konzentrieren zu können. Auf Grund ihres Haar-Verlustes wird sie gemobbt und von gesunden Schülern angefeindet. Die Gesellschaft beginnt, sich in Opfer und Nicht-Opfer aufzuteilen. Auf der Schule trifft sie einen alten Klassenkamerad, zu dem sie eine Zuneigung verspürt und der früher der Klassenbeste war. Dieser ist auch krank und hat sich charakterlich vollständig gewandelt. Seine fröhliche Einstellung und die Fähigkeit „eine Lösung zu finden“ ist ihm abhanden gekommen. Der Junge zerbricht an dieser Herausforderung und bringt sich kurz vor Jannas Geburtstag um.

Da sie sich bei íhrer strengen Tante sowieso nie wohl gefühlt hat, ist der Selbstmord ihres alten Freundes der Auslöser für Janna, zu ihren anderen Tante zu fliehen.

Diese wohnt eher spartanisch und beengt, setzt sich aber trotzdem unermüdlich für Betroffene der Katastrophe ein. Ein Zentrum der Hilfestellung und Begegnung wird geplant, um für die Opfer der Strahlenkrankheit (den sog. „Hibakusha“ ) eine Anlaufstelle zu sein. Nachdem die Arbeit abgeschlossen ist, beginnt Janna ihre letzte Reise.

Sie reist per Anhalter in ihr – inzwischen wieder freigebenenes – Dorf und trifft dort auf ihre Großeltern, die noch völlig nichts-ahnend und absichtlich im Unglauben gelassen, nach Deutschland zurückgekehrt sind.

Anfangs wähnen sie sich in Sicherheit und bauen ihr altes Idyll der Beschwichtigung auf. Kaffee wird gekocht und Kuchen gebacken. Als sie es immer weiter mit der Beschwichtigung übertreiben, kann Janna-Berta nicht mehr zurückhalten und erzählt das ganze Ausmaß der Geschichte.

Interpretation & Bewertung

Was mir an „Die Wolke“ besonders gut gefallen hat, ist der dramatische Verlauf der Geschichte und die schonungslose Erwähnung von Leid und Unglück, was der Protagonistin ständig widerfährt.

Dadurch erhält das Buch einen sehr realistischen Anstrich und hebt sich von der reinen Fantasy- und Unterhaltungsliteratur ab, die man sonst so auf dem Bestseller-Markt findet. Das Buch ist nicht berechenbar und es vermittelt dem Leser auch kein „Wohlfühl-Gefühl“. Im Grunde ist es im Geiste von 1988 entstanden und enthält sehr eindeutige und prägnante politische Aussagen. Diese Zeit war von den Erlebnissen der Tschernobyl-Katastrophe geprägt und schon am Anfang geht es um die Frage „was wäre, wenn sowas auch in Deutschland passiert?“.

Die meisten Menschen sind in ihrem Verhalten sehr eindeutig gezeichnet: Charakterliche Schwächen und persönliches Unbeholfenheit liegen an der Tagesordnung. Die Menschen in dem Buch verhalten sich so, wie sich Menschen verhalten würden. Sie beschwichtigen, sie wiegeln ab, sie verhalten sich egoistisch und nehmen keine Rücksicht aufeinander. Kranke werden ausgegrenzt und Hilfestellung findet sich nur selten. Kein fröhlich, gekünsteltes Happy-End wartet auf die Hauptfigur, sondern ein Verlust nach dem anderen und ein Leben voller Entbehrungen und Rückschläge.

An manchen Stellen übertreibt das Buch diese negative Weltsicht, auf der anderen Seite kann es nur in diesem Ausmaß wirklich als glaubhaft vermittelt werden. Den Vorwurf mancher Rezensenten, dass das Buch reine Panikmache sei, kann ich nicht teilen. Die Schilderung ist durchaus glaubhaft und mit viel Phantasie gelingt es der Autorin, sich in das (beinahe unvorstellbare) Szenario glaubhaft einzufühlen. Dies ist die eigentliche, schöpferische Leistung an dem Buch und es gelingt der Autorin sehr gut.

Der Schwerpunkt liegt zwar auf den sozialen Beziehungen und Geschehnissen und der Ich-Perspektive von Janna-Berta, es wurde aber auch viel Wert auf eine gute Recherche gelegt. Wie läuft das Szenario ab, wenn wirklich ein Sauper-Gau in Deutschland passieren würde? Wie sind die Katastrophen-Pläne und offiziellen Vorgehensweisen? Dazu die bange Frage: Kann man sich überhaupt auf so einen Ernstfall angemessen vorbereiten? Dass wir mit den vielen Atomkraftwerken auf einem dauerhaften Pulverfass sitzen, wird zu oft vergessen. Der Strom kommt aus der Steckdose und er sollte möglichst billig sein. Dass dieser billige Strom auf der anderen Seite sehr teuer erkauft wurde, vergisst man nur all zu schnell. Dieses Buch verhindert, dass man es sich zu leicht macht und hält das politische Bewusstsein der Leserinnen und Leser wach.

Obwohl immer wieder argumentiert wird, dass die deutschen Atomkraftwerke sehr sicher sein und hierzulande ein GAU niemals passieren könnte, darf man die Frage nicht vergessen, was passieren würde, wenn wirklich mal etwas schief geht. Auch wenn das Risiko vielleicht sehr geringt ist, so ist es doch ein Risiko.

Fazit:
Ein besonders spannendes und lesenswertes Buch, das auch im Jahre 2010 nichts von seiner Brisanz und Aktualität eingebüßt hat.

6 Gedanken zu „Rezension „Die Wolke““

  1. Wäre dann, in diesem von dir beschriebenen Fall, meine Lebensversicherung nicht schadensersatzpflichtig?
    Schwarzer Humor beiseite, Julia, ich möchte damit nur andeuten, dass viele heutzutage geneigt sind, sich gegen alle Risiken und Unwägbarkeiten des täglichen Lebens abzusichern. Von der Computerausfallvers. bis zur Katzenhalterhaftpflicht.
    Ich weiß auch keine wirkliche Antwort, doch frage ich zwei Möglichkeiten ab, wobei, die Antwort in der Mitte liegen mag:
    Sollen wir alle unsere menschlichen Energien in Sicherheit investieren, die auch niemals ein 100 %iger Garant sein kann
    oder sollten wir nicht auch in die Einsicht investieren, das dem Leben immer Risiken gegenübersteh`n?
    Das ist, so wie ich es verstanden habe, auch ein Fazit aus der Loveparade, indem gesagt wird, selbst bei den besten und optimalen Vorbereitungen – ein unkalkulierbares Restrisiko bleit.

  2. Heftig! Zuerst würde ich demjenigen, der Dir das Buch zum 14.(!) Geburtstag geschenkt hat, einen Satz heiße Ohren verpassen. Die von Dir beschriebene Handlung hat das Potential, einen jungen Leser extrem zu traumatisieren. Ich denke, Du bist froh, daß Du es damals nicht gelesen hast.

    Aber grundsätzlich ist die Auseinandersetzung mit diesem Thema wichtig. Die wenigsten machen sich Gedanken darüber, was bei einer derartigen Katastrophe tatsächlich passieren kann. Daß die Fassade unserer Zivilisation dünn ist, muß man sicher nicht mit Beispielen belegen. Und was es für den einzelnen bedeuten würde, wenn er Tod und Leid seiner Mitmenschen und Familienmitglieder hautnah miterleben muß, sollte tatsächlich gelegentlich aufgeschrieben werden – auch um die schwer zu verstehende und oft zu sehr verharmloste Gefahr auf ein persönliches Schicksal zu fokussieren.
    Warum das jedoch unbedingt am Beispiel eines 14jährigen Mädchens, dem die Bezugspersonen im Verlaufe der Handlung quasi unter den Fingern wegsterben, durchexerziert werden muß, erschließt sich mir nicht.

    Hut ab, daß Du Dich da durchgearbeitet hast! Ich hätte vermutlich schon beim Tod des kleinen Bruders Ulli das Handtuch geschmissen. Wie grausam!

    Trotzdem noch eine kleine Frage: Wie geht die Geschichte genau zu Ende? Bleibt Janna bei ihren Großeltern? Erreicht sie etwas mit ihrer Erzählung? Gibt es einen Ausblick auf ihr zukünftiges Leben?

  3. @ Menachem: Ein Risiko besteht tatsächlich immer und überall. Wenn man über alles so genau nachdenken würde, dürfte man eigentlich gar nicht mehr auf die Straße gehen. 😉

    Ich gebe zu, bei Atomkraftwerken bin ich meistens etwas lasch und vertraue, ohne zu fragen, auf die Betreiber. Aber langfristig führt an dem Atomausstieg nichts vorbei. Wenn irgendwo ein Windrad umfällt, ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass auch nur ein einziger Mensch ums Leben kommt. Da ist es mit der reinen Wahrscheinlichkeit der alternativen Energiegewinnung einfach besser. Ein Super-Gau würde- neben den menschlichen Opfern- ganze Landstriche verwüsten und dauerhaft die Natur schädigen (so wie in Tschernobyl). Ich finde, das ist keine gute Alternative, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit nur 0,00001 % beträgt. Das beste wäre – meiner Meinung nach- ein relativ schneller Ausstieg aus der Kernkraft.

    @ Yva: Die Handlung ist wirklich etwas extrem und sie hinterlässt auf jeden Fall ein sehr bedrohliches Gefühl (auch für mich als Erwachsene noch). Vielleicht hat die Autorin damit übertrieben und ob es für Kinder wirklich die beste Kost ist, mag bezweifelt werden. Die 80er Jahre haben sich ja auch sehr durch ökologisch-politische Einflussnahme im Bildungssystem, etc. ausgezeichnet und das Buch ist ein Produkt aus dieser Denkweise.

    Ja, ich bin froh, dass ich es damals nicht gelesen habe, aber auch umso mehr, es vor zwei Wochen nachgeholt zu haben. Und ich kann es auch wirklich jedem empfehlen!

    Die Geschichte endet übrigens mit der Schilderung von Janna und der Erklärung ihren Großeltern gegenüber, dass viele Verwandte, u.a. deren Kinder und Enkel gestorben sind. Der Rest bleibt offen.

    Wahrscheinlich kehrt für das Mädchen nun endlich die Normalität ein, die sie die ganze Zeit nicht gehabt hat. Sie wird wahrscheinlich mit ihren Großeltern zusammen leben (die auch schon vor dem Unglück mit ihren Eltern in einem Haus gewohnt haben) und versuchen, das beste aus ihrem Leben zu machen. Vielleicht stirbt sie auch ein paar Jahre später an der Strahlenkrankheit. Aber wie gesagt, das ist alles nur meine Phantasie.

    mfg, Julia

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