Andere Belehren heißt, belehrt zu werden

Es gibt viele Menschen in unserem Leben. Tagtäglich werden wir von der Meinung anderer konfrontiert. Selbst wenn wir wollten, es wäre kaum möglich, ganz ohne andere Menschen und deren Meinungen auszukommen. Natürlich wollen andere Menschen nicht immer das Beste von einem, sehr viele wollen einen verletzen, übertrumpfen, ausspionieren, manipulieren, beleidigen, an die Seite drängen, usw. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir einen Menschen treffen, der es wirklich und von Herzen gut mit uns meint, ist daher ziemlich gering. Die meisten Menschen sind irgendwie unfrei und daher können sie auch nur Dinge von sich geben, die mit ihrer eigenen Unfreiheit in Verbindung stehen. Das darf man nicht vergessen.

Ich frage mich an dieser Stelle, was man machen soll: Wenn man festgestellt hat, dass das Leben eines anderen Mängel oder gar offensichtliche „Fehler“ aufweist, darf man dann oder muss man nicht gar den anderen kritisieren? Zumindest wenn es Menschen sind, die für sich das Recht rausnehmen, ebenso über die Welt zu urteilen und tagtäglich ihre eigenen Meinungen zu verkünden?

Wenn wir nicht gerade als Einsiedler auf einer einsamen Insel oder irgendwo in einer Berghütte 2000 Meter über dem Meeresspiegel wohnen, wenn wir in diese Zivilisation mit diesen vielen Menschen und Meinungen eingebunden sind, dann ist es absolut logisch, nachvollziehbar und wichtig, dass man mit der Meinung von anderen auch entsprechend umgehen kann. Und selbst weiß, wie man sich richtig äußert, wie man richtig kritisiert.

Das Problem ist doch meistens, dass einem auch gute Freunde selten ihre wirkliche Meinung preisgeben. Meistens wird darum herum geredet, weil man „niemanden verletzen“ möchte. Ich finde aber, dass es mitunter feige ist und den anderen umso mehr verletzen kann, wenn man gar keine Meinung zu ihm äußert.

Im Grunde bedeutet das nämlich einfach nur, dass man sich um ihn nicht sorgt, sich nicht kümmert- er ist schlichtweg egal. Keine Meinungsäußerung ist eine Abwesenheit von Liebe, aber auch ein Zuviel von Meinung ist nicht gut. Der beste Weg liegt wohl in der Mitte.

Wer ein guter Mensch sein will und sich wirklich für andere Menschen und sich nicht nur deren Maske oder Oberflächlichkeit interessiert, der kommt nicht darum herum, auch den Mut zu haben, unbequeme Meinungen zu äußern. Es ist ein aktiver Schritt, Zuhören ein passiver.

Nicht der, der geradeaus redet und zu seiner Meinung steht, ist der „schlechte“ Mensch, sondern derjenige, der eigene Gedanken verschweigt und vielleicht hintenrum oder gar nicht äußert. Es kann zumindest genauso verletzend empfunden und aufgenommen werden.

Allerdings ist es wichtig, dass man Kritik in der richtigen Weise äußert. Erfahrungsgemäß kommt die Kritik gar nicht gut an, wenn sie in einem vorwurfsvollen, anklagenden oder sonstwie verletzenden Stil geäußert wird. Die gute Absicht verkehrt sich dann schnell ins Gegenteil.

Mit dieser Art der Kritik haben wir tagtäglich genug zu tun, sie ist nicht gesund und macht krank. Vor dieser verletzenden und zerstörerischen Form der Kritik sollte man sich also hüten.

Wie heißt es so schön „Der Ton macht die Musik“.

Wenn man merkt, dass jemand gar nicht auf die eigenen Worte reagiert und sich nahezu unbelehrbar zeigt, was dann? Haben wir dann noch die Pflicht oder das Recht weiter zu belehren und Vorschläge zu machen? Nein. Wir haben „das Recht“ sowieso nie gehabt, weil es im Kern keine Frage von Recht ist. Wenn wir von einer uneingeschränkten Autorität und Autonomie des anderen ausgeht, ist es streng genommen nicht erlaubt, dem anderen Vorschläge zu machen. Durch das Miteinander schränkt der andere aber meinen Bereich zwangsläufig ein und umgekehrt. Einigungen und Kompromisse sind also tagtäglich nötig, auch wenn wir eigentlich das „Recht“ nicht haben. (Man denke da z.B. an die vielen Probleme die durch das enge Wohnen in Mietverhältnissen entstehen oder die ständigen Streitigkeiten u. aggressiven Abgrenzungen im Straßenverkehr)

Wenn jemand die eigene Meinung nicht annehmen möchte, können wir es nicht erzwingen, es sei denn wir haben eine sadistische Veranlagung und wollen unsere Mitmenschen mit unser eigenen, stets besten Meinung quälen. An dieser Stelle muss man sich fragen; War es die richtige Meinung? Habe ich es richtig geäußert? Usw. Dies führt mitunter zu Selbstzweifel oder Depressionen bei demjenigen der kritisiert- was wiederum ein Grund sein mag, warum die kostbare Meinung von anderen Menschen eher etwas Seltenes ist, das uns meistens überrascht.

Die wenigsten Verhältnisse zu anderen Menschen sind frei und außerhalb von engen Bindungen oder Machtverhältnissen (z.B. Freundschaften). Diese sind von Natur aus freier und gesünder als die, die belastet von Machtstrukturen sind. (z.B. Eltern- Kind, Lehrer- Schüler, Arbeitskollegen, Chef etc.)

Wenn uns ein freier Mensch auf Augenhöhe entgegen kommt uns unsere Meinung sagt, sollten wir uns darüber nicht ärgern. Er meint es bestimmt nicht böse, nein ist es nicht schön, dass jemand so ehrlich ist und sich unseres Selbsts annimmt?

Wenn es aber ein aufgeblasener Gockel ist, der sich nur mal eben profilieren möchte, dann haben wir das Recht, nein die Pflicht, ihm einen symbolischen Tritt in den Ar.. zu verpassen!

Was ist der Mensch denn anderes als die Summe seiner Mitmenschen, die Summe der mitmenschlichen Meinungen, der Prägungen, Erziehungen, Wertmaßstäbe und Gedanken der anderen?

Kein Leben ohne Bücher. Kein Leben ohne die geschriebene oder gesprochene Meinung der anderen. Ins Internet gehen wir tagtäglich freiwillig und saugen Millarden Bytes an Informationen in unser Gehirn. Damit gibt es keine Probleme. Wenn uns etwas ärgert oder nicht passt, klicken wir einfach weiter!

Wenn aber ein Mensch aus Fleisch und Blut auf uns zu kommt, erschrecken wir zurück und wollen seine Meinung nicht akzeptieren, fühlen uns verletzt und schreien den Schmerz in die Nacht.

Wer weiß mehr über uns: Der Mensch, der uns nahesteht und kennt oder die anonymen HTML-Seiten des Internets? Welcher Rat ist hilfreicher?

Ich denke, es ist der Mensch, der hilfreicher, aber mitunter auch schmerzlicher ist.

Es ist die Menschlichkeit, die für uns da ist, in welcher Form auch immer.

6 Gedanken zu „Andere Belehren heißt, belehrt zu werden“

  1. Das ist ein sehr schöner Artikel über Aufrichtigkeit oder Authentizität, wie ich es nennen würde. Es ist auch eine Frage über Wahrheit – als subjektive Wahrnehmung. Und die Kritikfähigkeit des „Opfers“, dessen Selbst-Bewusstsein auch eine große Rolle spielt.

    Je wichtiger ein Mensch für jemanden ist, desto genauer gilt es abzuwägen. Freundschaft vs. Bequemlichkeit. Doch wem der Partner/Freund wirklich am Herzen liegt, wird den Mund aufmachen und Worte, die mit dem Herzen gesetzt werden, können nicht falsch sein. Im doppelten Wortsinn! Sie schmerzen zwar, bilden aber die Grundlage für das weitere Miteinander und schaffen – nach der Überwindung der Verletztheit – eine solidere Basis, die weiteren Erschütterungen besser standhält. Es lohnt sich also …

    Herzliche Grüße!

  2. Wenn die Dämmerung hereinbricht, sagt der eine, och, jetzt wird es dunkel, und der andere meint, toll, wie schön, es ist noch immer hell.

    So meine auch ich Julia, dass der Mensch für den anderen immer nur das BESTE will, dass es ihm aber aus den unterschiedlichsten Lebenssituationen nicht immer gelingt.

    Der Unterschied ist der Moment, wo ein Mensch für den Anderen nicht das Beste geben konnte und dann für mich die Frage entsteht, warum konnte er es nicht?

    Daraus entwickelt sich möglicherweise Verständniss für den Anderen und kein schlechtes Gefühl, dass mir etwas missgünstig nicht gewährt werden sollte.

  3. @ Menachem: Die Frage, die du stellst, ist die Essenz des zwischenmenschlichen Verständnisses: Ja, warum klappte es nicht mit dem Verständnis? Manche Antworten sind schnell gefunden, andere hingegen werden immer offen bleiben.

    Eigentlich möchte man immer das Beste für den anderen geben, leider passiert es dann viel zu häufig, dass es nicht klappt oder nichts ankommt.

    Bei manchen Menschen kann man ganz locker Ratschläge austauschen, bei anderen hingegen hakt es oder wird ständig „falsch“ verstanden.

    Ich frage mich: Wann muss man aufhören, Ratschläge zu geben- es heißt ja auch: Ab wann habe ich kein Interesse mehr für den anderen? Wo endet mein Mitgefühl, wo meine Geduld?

    Der Punkt ist manchmal viel schneller erreicht, als man vielleicht zugeben möchte.. (gebe ich jetzt mal zu).

    Viele Grüße
    Julia

  4. @ Geheimrat: Dem kann ich kaum etwas hinzufügen. Nur eins, was ich an dir mag: Deine Art zu denken- und, was ich nicht mag (ganz ehrlich): dass man dich nicht belehren kann. 😉 (ist aber eigentlich auch ein Vorteil)

    Schöne Grüße

  5. Ich glaube, Ratschläge muss man dann aufhören zu geben, wenn für den anderen das tiefere Lebensverstandnis im eigenen durchleben liegt.

    Insofern kann ein Nichtratschlagen eine viel intensivere Freundschaftsgrundlage sein, als ein Ratschlagen – im Zuschauen müssen des Elends des Anderen.

    Eine Bekannte wollte, 21-jährig, noch zu DDR Zeiten unbedingt zu ihrem Freund an die Ostsee, der dort ein Lokal aufgemacht hatte. Der Vater wusste, dass dieser Mann, verhurrt und im Alkohol verlebt, das Schlimmste ist, was seiner Tochter passieren konnte. Er ließ sie ohne ein Wort des Einwandes gehen – es hätte eh nichts genutzt. Nach einem Jahr kam sie von selbst zurück – gekennzeichnet des schweren Jahres.

    Zusehen, wie andere Menschen, und auch die man besonders lieb hat, ihre eigenen Erfahrungen machen müssen, das kostet viel, viel mehr Kraft, als sie durch Verbieten oder Überreden gegen ihre eigene Überzeugung umzustimmen.

    Ich weiß nicht, ob ich es richtig ausdrücken konnte, was ich meine. Natürlich drückt sich intensive Freundschaft auch durch Wahrheiten sagen aus, es kann aber durch Schweigen sein.

    Und niemals, da glaube ich fest dran, kann wahrhaftes authentisches Verhalten verletzten- weil im authentischen Verhalten immer das Gutgemeinte mitschwingt.

  6. Es freut mich sehr, dass Du meine Art des Denkens magst 😀

    Frau kann mich nicht belehren? Nun, wer will schon „belehrt“ werden? Man kann mit mir aber leidenschaftlich streiten und guten Argumenten gegenüber zeige ich mich selten verschlossen 😉 Und es gibt bestimmt sehr vieles, in dem Du mir weit überlegen bist. Und dann lasse ich mich auch überzeugen …

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