Mit Maß und Mitte

Dieses Jahr entwickelt sich ganz anders als das letzte. Ich find das immer spannend, wie sich so gegen Januar- Februar immer heraus kristalliert, in welche Richtung es geht. Meistens hängt das mit Stimmungen zusammen, was man so machen will, und „wohin die Reise so gehen“ soll. Wie die Beteiligten drauf sind und was sie sich für Ziele gesetzt haben. Kurzum: Das letzte Jahr war das Jahr der Reisen und Fotoausflüge und dieses Jahr fühlt sich nach dem „Jahr der Arbeit“ an. Das erste Jahr, in dem wir wirklich beide an einem Strang ziehen und uns voll der Selbstständigkeit widmen. Oder anders ausgedrückt: die letzten beiden Jahre haben wir ein bisschen herumgebummelt und uns der Freizeit gewidmet, aber dieses Jahr können wir uns diesen Luxus nicht länger erlauben.
Ein Termin jagt im Moment den Nächsten, mein Terminkalender füllt sich schneller, als ich ihn abhaken kann. Die Projekte und Ideen stapeln sich auf dem Schreibtisch, ich komme kaum dazu, sie alle zu überblicken und rechtzeitig umzusetzen. Dazu kommt meine natürliche Schlafmützigkeit und der Hang, mir die Zukunft lieber ein bisschen „auszuträumen“, als sie wirklich umzusetzen. Wenn man sich eine Sache nämlich vorstellen kann, ist es fast so gut, wie sie auch real zu erleben! Menschen mit Phantasie müssen weniger arbeiten und weniger besitzen. Eigentlich eine ganz praktische Sache!

Dennoch fühle ich mich so gehetzt. Ich hab immer das Gefühl, nicht wirklich „angekommen“ zu sein. Wenn man viele Träume und Ideen hat und für sich selbst große Ziele steckt, dann jagt man diesen Zielen immer ein Stück weit hinterher. Und es ist ganz natürlich, dass man immer zuerst „die wichtigen Projekte“ sieht, aber die schönen Dinge, die Belohnungen nach hinten schiebt. „Jetzt machen wir erst Projekt x und y fertig und dann fahren wir in den Urlaub“ heißt es oft bei uns. Aber wird Projekt x und y wirklich fertig? Und was machen wir, wenn sich zwischenzeitlich das noch wichtigere Projekt Z dazwischen mogelt? Ich bin dann oft diejenige, die die Handbremse zieht. Die für Entschleunigung und Entspannung sorgt. Das ist wichtig. Manchmal fühle ich mich blöd dabei, weil ich dann schnell mal als „faul“ oder „bequem“ abgestempelt werde und weiteren Druck abbekomme. Außerdem habe ich ein sehr großes Schlafbedürfnis und werde vom Wetter stärker beeinflusst als andere Menschen. Aber in meinen Prinzipien kann ich auch eisern sein. Die Gesundheit ist das Wichtigste!

Mein Körper beantwortet all diese Fragen nämlich gerne mit seiner eigenen Art. Er macht bei Überlastung nicht so, wie ich das möchte. Er zickt rum, er zeigt mir, dass er altert und ständig diese Immunschwäche. Irgendeine Stimme in mir würde es gerne langsamer angehen, träumerischer, gemütlicher, aber der Druck der Realität reißt mich je aus meinen Träumen. Das ist ein Konflikt. Ein Konflikt der tatsächlichen „Notwendigkeiten“ des Lebens und ein Druck der „inneren Stimme“, die etwas anderes möchte.

„Die Realität“ ist voller unangenehmer Termine. Die Abgabetermine für die Steuererklärung, der monatliche Wechsel bei der Umsatzsteuer, der Druck alle Unterlagen beisammen zu haben, dann der Termindruck und die Besuche bei Kunden. Messen müssen geplant und bereist werden, Kontakte gepflegt, neue Produkte entwickelt werden und die Werbung muss hinterher kommen. Ein Leben für die Arbeit, so wie es das Steuer-, Finanz- und Bürokratiesystem in unserem Land gerne hätte.

In dem Moment wird man krank. Wenn man den Widerspruch nicht aushalten kann, wenn er nicht gelöst werden kann. Wenn der Druck von außen zu groß wird und du nichts entgegen setzen kannst. Wenn Du keine Lust hast, aber dennoch arbeiten musst. Vor allem, wenn Du Deine eigenen Bedürfnisse ständig nach hinten schiebst, aus Angst etwas nicht erfüllen zu können. Wenn Du das perfekte Rädchen geworden bist und Deine Zahnräder schon ein bisschen abgeschliffen sind.

Überhaupt der Druck! Manche kommen ganz gut mit ihm klar. Brauchen ein bisschen Action und Drama, um überhaupt erst wach zu werden. Für andere reichen kleinere Einflüsse völlig aus, um mental überzulaufen.. Ich merke das immer beim Autofahren: Mein Partner möchte immer schnell und actionreich fahren. Mittendrin gähnt er und langweilt sich. Ich hingegen fühle mich wie in der Achterbahn! Gehe mit den Eindrücken und der Geschwindigkeit also ganz anders um! Für empfindliche Menschen ist das normale Leben viel anstrengender. Sie nehmen mehr auf, sie können weniger herausfiltern und sie brauchen längere Ruhephasen, um wieder „ins Lot zu kommen“.

Die ruhigen Menschen bremsen die gehetzten Menschen aus, wenn sie mal wieder zu viel zu schnell wollen! Und der gehetzte Mensch sorgt dafür, dass der Träumer nicht vollends einpennt.

Just in time

= auf den letzten Drücker

Der moderne Mensch ist auf Aktivität ausgelegt. Wer nicht handelt, kann nicht erfolgreich sein, wer nicht lauthals den Mund aufmacht und schreit, wird nicht gehört und wer sich zufrieden und bescheiden im Hintergrund hält, wird überhört oder ganz vergessen. Das Leben, so wie es heute vom Kapitalismus und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geregelt wird, besteht aus Aktivität und begünstigt dabei die „Macher“, nicht die geistreichen Theoretiker. Wer nicht handelt, dem wird ein (irgendein) Schicksal vom Leben aufgezwungen. Zwischem dem handgemachten Erfolg und dem Totalversagen ist nur ein kleiner Spalt und meistens bestimmt der Zufall, auf welche Seite der Würfel fällt.

Erfolg kann nur derjenige haben, der das Leben an sich reißt und ausreichend gierig und einflussreich ist, um in der Masse der anderen nicht vollends unterzugehen. Jeder sucht sein Alleinstellungsmerkmal und bei dieser Suche entfernen wir uns meistens immer weiter von den anderen. Wir können dabei sehr erfolgreich werden, doch enden wir meistens ärmer als vorher.

Alles und alle sind daher in Bewegung, alles und alle sind „just-in-time“.

Das ist ein Modewort, und soweit ich das richtig verstanden habe, bedeutet es, dass die Lagerhaltung der Betriebe auf die Straße verlegt wird. Das spart Kosten und ist dank moderner Verkehrs- und Kommunikationsmittel nomalerweise sehr gut möglich.

Nur im Winter klappt es nicht so gut, weil dann die Straßen vereist oder zugeschneit sind. Die Ironie an der Sache ist, dass die „just-in-time“- Lieferungen für wichtige Produkte wie Streusalz oder Enteisungsmittel dann nicht mehr rechtzeitig ankommen oder aus Kostengründen an den Lagermöglichkeiten (den Vorräten) gespart wurde. Komisch, dass der moderne Mensch es irgendwie „verlernt“ hat, Vorräte zu bilden und witzig, wie verrückt und beinahe psychotisch er nun auf die Veränderungen eines Winters reagiert, der ja nur ca. 4 Grad kälter als ein normaler Winter ist.

Aber was ist schon normal in der Geschichte des Menschen, der sich über die Jahrhunderte und Jahrtausende seines Bestehens mit immer wieder neuen Katastrophen und Schicksalschlägen auseinandersetzen musste? Man denke z.B. an die Pestkatastrophen oder andere nicht behandelbare Krankheiten im Mittelalter, die Ernteausfälle bei einem nass-kalten Sommer, die zu erbarmungslosen Hunger führten und der nicht mit einem eben mal „just in time“ gelieferten Müsliriegel über die Autobahn gestillt werden konnte. Wir jungen Menschen kennen solche Ausnahmezustände nicht und daher sind wir darauf nicht vorbereitet. Wir sollten vielleicht wieder auf unsere ältesten Verwandten hören, die wir noch belächelt haben, als sie in der Nachkriegszeit weiterhin Vorräte gehortet haben… wir sollten auf sie hören und überlegen, was sie uns über wirklich schwierige Zeiten zu erzählen haben.

Was machen die Menschen erst, wenn die Klimakatastrophe weiter voranschreitet und es zehn Grad kälter als normal ist? Wenn wir jeden Winter und jeden Sommer solche Extreme haben werden? Wird man irgendwann beginnen, umzudenken und nicht mehr auf der letzten Minute über Weihnachten „just in time“ bei den Verwandten sein? Wird das unser „modernes“ Leben überhaupt zulassen? Oder verpassen wir dann einen wichtigen Termin? Werden wir vielleicht einsichtig und erkennen die Bedeutung der Familie und der Familienbande wieder oder wird weiterhin unser Egoismus und das in dieser Zeit so hoch geschätzte Individualisierungs- und Emanzipationsstreben über jede andere Einsicht und „Moral“ siegen?

Wann beginnen wir zu begreifen, dass es eben nicht „normal“ ist, über Weihnachten mit einem Flugzeug in den Urlaub zu fliegen und dabei Unmengen an Kerosin zu verbrauchen und ehemals in großen Tiefen gespeichertes CO2 in die Luft zu blasen? Wann werden wir erkennen, dass die Autos in Bezug auf ihre Massenkompatibilität, Rentabilität oder Wettertauglichkeit nicht unbedingt die bedingungslose Mobilität der Zukunft sind? Und wann wird man erkennen, dass die Bedeutung eines Massentransportmittels wie die Bahn zu wichtig für viele Menschen ist, als dass sie einzig und allein einem Renditebestreben unterworfen werden darf? Dazu bräuchte man aufrechte Politiker, die die Probleme der Menschen und Bürger wirklich ernstnehmen und keine Politiker, die nur die Interessen der jeweiligen Lobbys meistbietend verwalten…

Und warum bauen die regionalen Städteplaner immer neue Parkplätze, Brücken, Umgehungsstraßen, Autobahnauffahrten und hübsch verzierte aber meistens zu kleine oder zu enge Kreisel – vernachlässigen dabei aber völlig die nötige Instandhaltung bereits bestehender Trassen? Die Kosten für die Straßensanierung kann man ja zur Not über die Anwohner abwälzen oder wenn es weiterhin klemmt, die Steuersätze anheben.. der brave Michel wird schon ein guter Deutscher sein und alles tun, was die Obrigkeit von ihm verlangt…

Wann hat der Mensch jemals aus seinen Fehlern gelernt und wann war es ihm (bzw. seiner Führung) je möglich, in größeren Maßstäben als zwei Tage lang zu denken und zu handeln? Vor dem Hintergrund von Ausnahmezuständen wie einem harten Winter, werden solche Probleme viel sichtbarer als sonst. Aber führen sie auch zu einem Umdenken oder werden wir uns weiterhin einlullen lassen und den Winter einen guten Mann sein lassen?

Es mangelt an Planung, Vorausschauen, Verantwortungsgefühl, ganzheitlichem Denken… und das ist in einem ordnungsliebenden und als pflichtbewusst geltenden Land wie Deutschland.

Wenn ich mir den Status des heutigen Menschen so anschaue, dann denke ich, dass er das alles noch nie gekonnt oder immer wieder sehr schnell vergessen hat. Wohlstand macht träge und übergroßer Wohlstand führt zu Naivität.

Es ist nur leider allzu menschlich, das Kind immer erst dann zu retten, wenn es bereits in den Brunnen gefallen ist.

Eine „just in time“ – Rettung. Ohne doppelten Boden und ohne Netz.