Herbstzeiten

Eine ältere Frau schiebt ihren Einkaufswagen rückwärts durch den engen Gang. Dabei dreht sie ihren Kopf halb nach hinten, murmelt irgendetwas Unverständliches vor sich hin und drängt mich zur Seite. Ich war gerade dabei, Gewürze aus dem Regal herauszusuchen und musste wegen ihr meine Tätigkeit abbrechen. Mit Selbstbestimmtheit und Scheuklappen schiebt sie an mir vorbei. Sie riecht ungepflegt, nach Schweiß. In ihrem Wagen sind Krücken (die sie aber derzeitig nicht braucht) und Dinge, die aussehen, als ob sie von einer alten Frau kommen. Als ich in ihr Gesicht blicke, merke ich aber, dass sie noch gar nicht so alt aussieht. Ihr Kleidungsstil ist sogar recht gut, wenn auch nachlässig getragen und nicht gebügelt, die Haut und die Haare wirken wie die von einer 50-Jährigen. Sie schaut unruhig hin und her und nimmt überhaupt nicht die Menschen wahr, die um sie herum stehen. Auch nachdem ich sie mehrmals bewusst anschaue, erwidert sie meinen Blick nicht. Später kommt sie mir immer wieder in die Quere, irgendwo bin ich froh, als ich noch mal durch den ganzen Markt muss, weil ich was vergessen habe und sie dann nicht mehr treffe.

Eine Gruppe von Jugendlichen steht genauso im Gang, dass man sie nicht übersehen, und vor allem nicht überhören kann. Lauthals unterhalten sie sich. Ihre Kleidung wirkt billig, übertrieben, vor allem bei den Frauen. Meistens haben die Frauen eine breite Hüfte, einen dicken Po und tragen dann eine zu enge Jeans, was nie passt. Immerhin, sie lachen und verstehen sich gut untereinander. Auf andere achten sie aber genauso wenig wie die alte Frau. Ihnen gehört der Markt, sie sind eine starke Gruppe und sie reden am lautesten. Schüler vielleicht.

Die meisten Besucher im Supermarkt sind weiblich, ob alt oder jung, der Frauenanteil beträgt bestimmt 85 Prozent. Dabei müssen Männer auch Brot essen und sich ab und zu mal einen Kaffee aufbrühen, denke ich mir.

Einkaufen macht mir heute kein Spaß, so wie fast nie. Es ist so unmenschlich, so kalt. Jeder ist dem anderen egal, nie unterhalte ich mich. Ein großer komplexer Einkauf und ich rede vielleicht 2 oder 3 Sätze, die meistens aus einem Standardrepertoire bedient werden. Ändern kann ich das nur, indem ich mir sage „So heute rede ich mal besonders viel und gehe auf die anderen Menschen zu.“ Dann geht es gut, aber wenn ich warte, dass ich angesprochen werde, passiert fast nie etwas.

Dann erstreckt sich das Vokabular auf:

„Danke, war alles perfekt. Wo stehen die Nudelsoßen? Ich habe es auch klein. Auf Wiedersehen!“

Die Autofahrer stellen sich wie immer ungeschickt an. Ein älterer Mann fährt mit seinem Kleinwagen nach hinten aus der Parklücke heraus. Obwohl er sieht, dass Passanten vorbeigehen und teilweise auch große und schwere Einkaufswagen dabei haben, setzt er stur zurück. Rentner haben halt wenig Zeit, das sehe ich ein! Geduldig warte ich auf ihn. Anstatt dass er weit genug zurückstößt, fährt er nur zwei Meter aus der Lücke heraus und versucht den zu engen Winkel durch Vorwärtsfahren und Lenkradeinschlagen zu Kompensieren. Dumm nur, dass ich da noch stehe, denn mit dem schweren Wagen komme ich nicht so schnell außen herum. Etwas verlegen schaut der Fahrer schnell weg. Auch hier- ohne Worte, einfach nur ein paar unverständliche und nichts sagende Blicke.

Das ist das Deutschland, wie ich es kenne- und leider auch nicht mag. Die Deutschen sind kalt, wortkarg, egoistisch, stolz und benutzen ihre Ellenbogen. Es wird darauf gewartet, dass andere einen Fehler machen, ansonsten verhalten sich die Menschen wie perfekte, unauffällige Maschinen. Das Leistungsideal steht im Mittelpunkt, der Fleiß, die Sauberkeit. Allen Ortes wird gekehrt und geputzt, gewerkelt und erledigt. Niemand fragt, warum, es wird einfach gemacht. Jeder möchte ganz oben mitschwimmen, jeder will das beste Auto haben, den schönsten Urlaub, das meiste im Warenkorb, die besten Klamotten. Nur warum, das fragt keiner. Alle halten es für erstrebenswert, wie ein Fluss, der seine Menschen einfach mitreißt, werden wir im Konsum- und Alltagsstrom mitgerissen und finden keinen Platz für den freien Geist. Der soll irgendwann kommen, abends vielleicht, da haben wir zwei Stunden Zeit. Dumm nur, dass wir dann müde sind und wiederum nur konsumieren, aber nicht wirklich leben können.

Dumm nur, dass so wenig Platz für die Dinge ist, die wirklich Glück erzeugen und dem Menschen dienen.

Wo ist der Ausweg aus dieser Misere? Ich denke, man muss sich regelrecht zwingen aus diesem Alltags- und Leistungsideal zu entkommen und sich massiv Freiräume zu „erwirtschaften“, in denen man einfach das macht, worauf man Lust hat, nicht- worauf man denkt, Lust haben zu müssen!

Zeit für sich, Zeit für Bücher, Zeit für Spiele, Zeit zum Entspannen, für ein angenehmes Bad. Für Stunden zu zweit, für schöne Gespräche, für etwas, darüber hinaus.

Es bringt nichts zu sagen „dass mache ich irgendwann“. Man muss es jetzt machen. Indem man selbst andere Richtlinien befolgt und eigene Maßstäbe setzt, wird man auch zum Vorbild. Es ist nicht leicht, aus der Masse zu treten, niemand macht das gerne. Jeden Tag neu aufzustehen und für seine Ideen gerade zu stehen, kann ein harter Kampf sein. Und gerade die Tatsache, dass es so schwierig ist, zeigt auch- wie wichtig es ist.

Warum ziehen Außenseiter aber soviel Hass und Ablehnung auf sich? Warum ist es so schwer, anders zu sein?

Für jeden Menschen in der Gesellschaft gibt es Normen, Rollenbilder, Erwartungen, die ständig neu überprüft und formuliert werden. Ein Medium wie ein Blog beispielsweise formt solche Normen, vor allem wenn es ein soziales Blog ist, wo viel „geredet“ wird. Indem man jetzt eine eigene Meinung formuliert und sie ins Netz stellt, produziert man eine gültige Meinung.

Menschen können die Meinung teilen und einen dafür loben, bestätigen, etc. Wenn sie einen nicht loben, nicht beachten, etc. ist das meistens ein Zeichen dafür, dass sie es ablehnen, was man sagt oder nicht wertschätzen. Je weiter die eigene Meinung nun vom Allgemeingültigen abweicht, desto größer der Druck, wieder Meinungen anzunehmen, die gesellschaftskonformer sind. Das erklärt z.B. auch warum so viele Krankheiten oder Besonderheiten von Menschen keine „Lobby“ haben. Niemand traut sich, für Besonderheiten eine Meinung zu bilden oder dafür gerade zu stehen. Dabei ist der verbale Anfang und das sich Bekennen zu einem eigenständigen Individuum das Wichtigste überhaupt, um ein freier und glücklicher Mensch sein zu können.

Indem man redet und dafür steht, was man denkt und sagt, setzt man einen Anfang. Ganz gleich wie klein er ist, es ist ein Anfang.

Ich denke, dass das mit die wichtigste Eigenschaft und Möglichkeit für ein soziales Blog ist. Bei Themenblogs kann das ein wenig anders sein, hier stehen vielleicht mehr die Sachthemen im Vordergrund. Aber bei den privaten Blogs kann es – neben der reinen Unterhaltung- vor allem nur diesen einen Zweck geben:

Meinungen zu produzieren, sich anzuschließen und sie zu verteidigen. Soziale Schichten zu definieren, Freundeskreise aufzubauen und die Leute auszuschließen, auf die man gerade keinen Bock hat.

Oder aber der lockere, wenn auch schwierigere Weg: Meinungen produzieren, sie in den Topf werfen und schauen was mit ihnen passiert.

Sich nicht an sie klammern, sie einfach ziehen lassen wie graue Wolken am weiten Himmel.

Dann ist es mit der Zeit egal: Wer hat mich gelobt? Wer hat mich kritisiert? Wer ist mein Freund? Wer ist mir übel gesinnt? Solche Fragen verlieren irgendwann ihren Sinn.

Fragt die Blume ständig danach, warum sie blüht oder im Herbst ihre Blätter verliert?

Nein- sie macht es einfach.