Ein Sommerabend. in den Neunzigern

Lese-Tipp: Um den Text besser „empfinden“ zu können, unbedingt die verlinkte Musik dazu hören.

 

Ich stelle das Fahrrad ab und bin etwas aus der Puste von dem langen Weg zum freistehenden Haus im Wohngebiet. Das Haus ist ein quadratischer Kasten mit zwei Stockwerken. Das Grundstück ist recht klein. Ich war hier noch nie.
An der Wand vorm Haus stehen einige Fahrräder, daran erkenne ich, dass schon viele Besucher auf der Party sind. Die Räder stehen aneinander gelehnt und etwas durcheinander. Keiner hat es abgeschlossen. Zur Straße gibt es noch eine halbhohe Mauer und eine Gartentür. Ich erkenne sogar die einzelnen Räder wieder und kann ein paar den Personen zuordnen, mit denen ich jeden Tag zu tun habe. In dem Moment weiß ich nicht, ob ich mich freuen oder aufgeregt sein soll. Es ist so ein leichtes Kribbeln im Bauch, wenn man irgendwo neu ist und noch nicht alle kennt. Mit ein paar Leuten komme ich gut zurecht, andere wiederum mag ich gar nicht. Und so geht es den anderen auch. Manche loben mich, andere streiten mit mir, manche haben ihre eigenen Probleme, manche sind mitten im Umbruch. Es gibt die ersten Beziehungen, was immer noch was „Neues“ und ungewohntes ist. Aber es gibt auch noch viele Singles.

Ich gehe weiter in den kleinen Hinterhof mit dem überdachten Freisitz. Darunter stehen eine Bierzeltgarnitur und zwei Bänke. Es ist eine Anlage aufgebaut und relativ laute Musik von „The Offspring“ schallt über den gepflasterten Hof.
Auf der Bank sitzt ein Schulfreund von mir, den ich gut kenne und mag. Er raucht eine Zigarette. Wir reden ein paar Takte. Er ist immer so ausgeglichen und lustig. Und kann zuhören, was nicht bei vielen selbstverständlich ist. Auf dem Tisch stehen Alkoholika verschiedenster Marken und Sorten. Es ist hier kein Problem, an Alkohol zu kommen. Wie selbstverständlich und ohne nachzudenken, greife ich zu einer der Flaschen. Gibt es Pappbecher oder Gläser? Ich schaue mich noch um und trinke dann den ersten Schluck. Am Himmel steht die Sonne, es ist Sommer. Nur langsam geht der weiße Ball über die Häuser unter. Bis zur vollständigen Dunkelheit wird es noch ein wenig dauern. Ich habe ein T-Shirt an und es ist warm. Zeit spielt keine Rolle. Wahrscheinlich ist es Freitag oder Samstag abend.

Außer meinem netten Bekannten ist hier draußen keiner. Ich frage mich, wo alle sind? Ohne groß nachzudenken, gehe ich durch den Haupteingang ins Innere des Hauses, aus dem Stimmen kommen. Der Flur ist etwas dunkel, ich frage mich, ob ich hier richtig bin. Denn ich war hier auch noch nie. Bin ich überhaupt eingeladen? Daran kann ich mich nicht erinnern, aber es spielt wohl auch keine große Rolle. Man spaziert einfach so in fremde Häuser und keiner macht sich darüber Gedanken.

Im Innern des Hauses höre ich Stimmen und Lachen aus dem ersten Stock. Auch hier ist eine Anlage, die laute Musik von „Green Day“ spielt.

Ich gehe in die Küche, wo ein paar Leute stehen, die ich kenne. Wir reden und lachen. Dabei wird immer mehr getrunken. Überall stehen Pappbecher, Schnapsgläser, Wein- und Bierflaschen. Im Kühlschrank gibt es Nachschub. Im Wohnzimmer sitzen auch viele Leute. Alles Jugendliche, Erwachsene sind nicht zu sehen. „Vielleicht verreist“ denke ich mir. Die jungen Leute stellen einen starken Kontrast vor der recht spießigen, biederen Einrichtung dar. Wie bunte lebendige Punkte sitzen sie auf langweiligen alten grau-braunen Sofas. Im Wohnzimmer unterhalten sie sich ein paar Leute gerade über Dinge, die mich nicht interessieren. Vor allem die Frauen führen hier das Gespräch. Die Männer werfen ein paar Einwände in die Diskussion oder ziehen die Frauen mit Witzen und frechen Sprüchen auf. Der ältere der beiden Gastgeber ist mit einer guten Schulfreundin von mir in einer Beziehung. Er macht fiese Sprüche und zieht sie auf. Ich höre seinen eigenen Vater in seiner Stimme und in dem wehleidigen Ausweichen und gespielten Beleidigtsein meiner Freundin höre ich ihre Mutter. Daher funktioniert diese Beziehung auf den ersten Blick, denn die Rollen sind klar verteilt. Ich frage mich nur, warum Sie sich das gefallen lässt? Wird diese Beziehung lange halten? Wo ist der Respekt und das gegenseitige Vertrauen? Aber vielleicht bin ich auch noch zu jung und unbeteiligt, um das ganze zu verstehen.

Bei den anderen Gesprächen geht es nur zum Teil um ernste Dinge. Ein Geschenk für eine befreundete Person? Beziehungsstress? Sachen aus der Schule? Wohin am Wochenende einkaufen? Vielleicht sind es auch Erwachsenengespräche, über Themen, die mich noch nicht interessieren oder noch nie interessiert haben. Daher kann ich mich nicht gut erinnern. Der Inhalt spielt keine Rolle, es ist nur wichtig, dass man sich gut fühlt! Genaues Interpretieren von Worten und das Waagschalen-Problem kommt erst mit dem Alter.
Es gibt hier noch einen Balkon. Ich gehe raus, fühle mich herrlich frei und rauche eine Zigarette.
Rede mal mit dem, mal mit der.
Es spielt keine Rolle. Das Sein ist wichtiger als das Haben.  Alle sind in einer „Clique“. Es gibt keine Feindschaften, keine Gruppen, und das gemeinsame Alter ist die verbindende und prägende Eigenschaft. Alle halten zusammen, alle sind auf „einer Wellenlänge“. Alle sind jung, alle wollen trinken und Spaß haben. Ich auch.

Die Sonne geht langsam unter. Es wird dunkler. Komischerweise sitzen wir kaum draußen. Dabei ist es doch so warm! Und die beiden Gastgeber hatten alles perfekt vorbereitet.
Vielleicht weil wir ungestört reden und Musik hören wollen? Im Hof können ja die Nachbarn zuhören und sich beschweren. Hier drin sind wir unter uns, haben das ganze Haus für uns!

In dem „eigentlichen“ Zimmer der Gastgeber sitzen auch viele Leute. Hier halte ich mich lange auf. Es ist lustig. Einer spielt auf einer Gitarre. Wir sitzen auf dem Teppichboden im Schneidersitz. Es tut noch nix weh. Aber über was unterhalten wir uns? Ich hab es vergessen. Ich weiß nur, dass es lustig ist und ich immer besoffener werde.

Nach vielen Stunden gibt es die ersten Opfer. Jemand muss sich auf der Toilette übergeben. Haben wir überhaupt was gegessen? Ich kann mich nur an Flüssigkeiten erinnern und dass man in diesem Alter „zu Hause“ gegessen hat und hoffentlich eine „gute Grundlage“ aufgebaut hat. Ansonsten gibt es da noch Chips und die Tanke.

Wie spät ist es, als wir nach Hause fahren? Mit dem Fahrrad 14 km mitten durch die Nacht? Es spielt keine Rolle, denn da ist die Gruppe, die auf dich aufpasst. Du bist nie allein. Es wartet immer jemand und nimmt Rücksicht. Soziales Verhalten ist in diesem Alter sehr ausgeprägt. Man denkt darüber gar nicht nach, sondern macht es einfach.

Der ganze Egoismus kommt erst später, wenn jede in seiner eigenen Karre sitzt und man noch nicht mal mehr einen Anhalter mitnimmt. Dabei ist man doch früher auch getrampt.

Das ganze Leben, wie in einem Film.

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