Die Bleifigur

Mit einmal wurde es Winter. So schnell wie nie hatte sich das Wetter verlagert, im Grunde war es einfach umgekippt wie ein toter Fisch. Ein paar Sonnenstrahlen im August, nur um dann in ewige Monotonie und Gleichgültigkeit zu verfallen.

Der Regen weinte seine Sorgen aus sich heraus.

Die junge Frau hatte sich- wie immer- soviel vorgenommen, aber letztendlich zog sich der Tag doch eher wie altes Kaugummi, denn wie frisches junges Gras.

Die Deutschen war wieder deutsch, perfekt bis in letzte Detail, genau, streng, langweilig. Die Nachbarn waren zurückgezogen, die Anrufe blieben spärlich, im Radio wurde dummes Zeug erzählt und auf übertrieben lustig gemacht. Die Leute im Radio waren so wie ewig im Karneval, kaum vorstellbar, dass sie sich nicht verstellten und tatsächlich immer so lustig und potent sein konnten.

In ihrem eigenen Leben war doch so vieles anderes, wie dieses Wunschdenken und diese Ideale, von denen sie so umgeben war. Und genau das war der Punkt, der sie unglücklich machte, nicht die alleinige Tatsache, dass sie vielleicht etwas einzelgängerisch oder auch sonst schwierig im Umgang war. Sie war einfach nicht so perfekt, wie die Medien sie haben wollten. Sie hatte Ecken und Kanten, sie war schwierig, bockig, störrisch, selbstsicher, eigensinnig und wenig anpassungsfähig. Zum modernen, schnelllebigen und sozialen Leben passte sie einfach nicht, sie war mehr ein Relikt aus alter Zeit, wo der Glauben noch eine Bedeutung für die Menschen hatte, wo es langsamer und gemächlicher zuging, Frauen zu Hause waren und sich meistens nur um Kinder und Haushalt kümmerten.

In dieser Zeit hätte sie sich wohl gefühlt, da wäre sie heimisch gewesen. Aber mit dieser modernen Zeit konnte sie nur wenig anfangen, so wenig wie ein Auto im Meer. Es versank einfach, sie versank, immer trauriger und dunkler wurde es um sie herum. Sie versuchte den beginnenden mentalen Zerfall und ihren Alters-Stursinn mit strikten Gedanken und Strenge sich selbst gegenüber abzuwenden, aber es gelang nicht. Je mehr sie sich bemühte, desto schlimmer wurde es. Sie verhaspelte sich in ihren eigenen Zwängen, in ihrem eigenen Unvermögen. In ihrem Kopf ging es rauf und runter, die schönste Achterbahnfahrt, eine Welt voll Leben. Doch außerhalb dieses Kopfes war nichts mehr, nur Stille, dicke Wände, Beton, weite Felder und letztendlich das weite Weltall.

Wie sie so über alles und vor allem sich selbst nachdachte, wurde sie immer trauriger, ein tiefer lang gezogener Schmerz durchzog ihre Brust, breitete sich wie warmes Wasser über den ganzen Körper aus, belegte die Zunge und drückte von innen gegen die Augen. In diesem Moment fühlte sie sich wie Blei, wie eine aus Blei gegossene Figur, die man sich ins Regal stellt. Dort konnte sie hübsch stehen, von anderen nicht beachtet werden und darauf warten, dass der Staub ihren Kopf bedeckte und die Zeit sie langsam vergessen konnte.

Immer wieder dachte sie, ob es nichts gäbe, was diesen Verfall aufhalten könnte, irgendein Zaubermittel, ein Gegengift gegen den schleichenden Wahnsinn, gegen den wachsenden Egoismus, gegen ihre stille Zufriedenheit auch vor dem Fernseher ein glückliches und erfülltes Leben führen zu können?

Sie dachte daran, wie sie jung war, wie anders ihr Leben dort gewesen war. Und verachtete sich gleichzeitig, so einen dummen Gedanken gehabt zu haben, wo sie doch auch selbst noch jung war und eigentlich in der Blüte ihres Lebens zu stehen gehabt hätte!

Was hatte sie schon für Ziele? Gab es so was überhaupt? Hatte sie je Ziele gehabt???

In einer Box kramte sie in alten Fotos, damals- als sie noch hübsch gewesen war. Sie sah ihren eigenen Augenausdruck, die Ziele und Wünsche- damals konnte man sie sehr deutlich sehen. Ihre Augen funkelten beinahe, das ganze Feuer der Leidenschaft und des Verlangens drangen aus ihnen und machten ihr nun beinahe Angst.

Die Musik war die letzte Ader des Lebens, aus der sie noch ihre Energie bezog. Sie hatte aufgehört zu essen, aufgehört zu atmen, aufgehört zu denken- aber Musik konnte sie noch immer hören. Es war so, als ob dies die Quelle ihrer Seele sein müsste, als ob alles dahin zurückfließen würde. Dort hörte sie Geräusche, Liebe, Kindergeschrei, schöne und laute Stimmen, Menschen, Maschinen, das weite Meer wie es rauschte. Sie hörte und hörte. Ihr Kopf legte sich schief, die Energie durchströmte das Herz.

Plötzlich wurde sie wieder wach, riss das Heft in ihre Hand und alles wurde anders.

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